Der ganze Mensch. Eine Einführung in die Humanontogenetik

Wessel, Karl-Friedrich (2021)

Der Autor möchte eine neue Wissenschaftsdisziplin etablieren, die Humanontogenetik. In dem Buch begründet er dieses Ansinnen auf der Grundlage umfänglicher Rezeption von Befunden der unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Disziplinen. Das Problem der Forschung über den Menschen besteht nach Wessel darin, dass in jeder Humanwissenschaft bestimmte Aspekte des Menschseins akzentuiert zum wissenschaftlichen Gegenstand erhoben werden. So wie ein System mehr ist als die Summe seiner Elemente, so ist der Mensch mehr als das biotische Lebewesen, der geistbeseelte Denker und das interagierende Beziehungswesen.

Humanontogenetik findet ihren wissenschaftlichen Gegenstand in dieser Ganzheit, die in anderen Humanwissenschaften aufgrund der spezifischen Betrachtungsweisen und erkenntnistheoretischer Begrenzungen nicht erfasst werden kann. So leitet der Autor im ersten Kapitel den Gegenstand der Humanontogenetik und die Ziele dieser neuen Wissenschaftsdisziplin ab. Der Mensch wird als biopsychosoziale Einheit gesehen (S.41). Menschliches Verhalten ist wissenschaftlich erschließbar aus den Verhaltensmöglichkeiten des Individuums, die sich aus biotischen, psychischen und sozialen Voraussetzungen und deren Wechselwirkungen ergeben. Die Einheit dieser Komponenten ist als dynamisches System denkbar. Der Mensch kann sich lebenslang entwickeln. Allerdings müssen die entsprechenden Bedingungen gegeben sein. Die Konsequenz dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass die Entwicklung bei jedem Menschen einmalig ist und nur in dieser Individualität erfasst werden kann. In der Wechselwirkung biotischer, psychischer und sozialer Gegebenheiten konstruiert sich jeder Mensch seine Umwelt, in der er sich verhält und entwickelt. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Ziele schreibt Wessel: „Es ist schwer, deutlich zu machen, dass wirkungsvolle Veränderungen nicht über eine Zunahme von Detailkenntnissen laufen, sondern über die Entwicklung und Aufnahme von Konzepten, die erst die sinnvolle Einordnung neuer Details ermöglichen. Die Humanontogenetik ist über die Annahme von lebenslanger Entwicklung und der biopsychosozialen Einheit ein Konzept, welches die Einordnung von Details und Orientierungen für neue Forschungen ermöglicht“ (S.55). Dann setzt sich der Autor mit Methoden und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen humanontogenetischer Forschung auseinander. Hier ist die Bestimmung des Entwicklungsbegriffs bemerkenswert. Als Prozess zeichnet sich Entwicklung im Vergleich zu Bewegung und Veränderung durch Irreversibilität aus. Die Ganzheitlichkeit der Ontogenese ist nur eingeschränkt mit empirischen Methoden erfassbar.

Ein Kapitel ist der Ökologie in der Humanontogenese gewidmet. Darin werden Zusammenhänge zwischen Individualentwicklung und Umwelt untersucht. Zum einen werden dafür vorliegende Konzepte herangezogen. Zum anderen werden Kompetenzen mit ihren bedeutsamen Aspekten der individuellen Umwelten betrachtet. Das siebente Kapitel begründet eine Theorie sensibler Phasen als Bedingung für Kompetenzentwicklung. Sensible Phasen eröffnen Möglichkeiten für Kompetenzentwicklungen durch günstige biotische, psychische und soziale Gegebenheiten. Die Persönlichkeit ist in ihnen labilisiert, weil die Kompetenzerweiterung auch zum In-Frage-Stellen bewährten Verhaltens führt. Sensible Phasen sind in Abfolge und Dauer differenziert biotisch, psychisch und sozial bedingt. Wir wissen über sensible Phasen noch sehr wenig. Das achte Kapitel behandelt das Zeitwesen Mensch – homo temporales. Damit wird die Kompetenz gewürdigt, die Komplexität der Prozesse in ihrer zeitlichen Abfolge zu koordinieren und zu synchronisieren. Da alles im Leben seine Zeit hat, ist die Abstimmung und die Reflexion über den Verlauf eine lebenslange Aufgabe für jeden Menschen, die individuell zu bewältigen ist. Zu den Synchronisationsaufgaben des Individuums gehört auch die Koordinierung zwischen der individuellen Zeit und sozialen Zeiten und Rhythmen der Umgebung. Damit werden Wertvorstellungen, Geschichte und Zukunft für individuelle Handlungsentscheidungen bedeutsam. Das abschließende Kapitel ist der Souveränität des Menschen gewidmet. „Souverän ist derjenige, ohne es jeweils zu reflektieren, der den Widerspruch zwischen Voraussetzung und Möglichkeit beherrscht und dies sowohl dann, wenn er sich die Möglichkeit noch erwerben kann, als auch oder besonders dann, wenn unübersteigbare Grenzen vorhanden sind“ (S.646).

Fazit: Gegenstand der Förderpädagogik ist – wie der der Humanontogenetik – der ganze Mensch in seiner Entwicklung. Uns interessiert die Entwicklungsförderung durch Bildung und Erziehung unter erschwerten Bedingungen für Kinder und Jugendliche. Die Lektüre des Buchs weitet den Blick. Es berührt mit der Individualisierung und den individualisierten Entwicklungstempi den Diskurs um die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf erscheint in einer erweiterten Sichtweise. Das macht das Buch lesenswert. Die Kompetenzstruktur sowie Dynamik und Komplexität ihrer
Entwicklung sowie die sensiblen Phasen in ihrer sozialen Beeinflussung durch förderpädagogische Interventionen eröffnen Felder für Forschung und Förderung.

Peter Jogschies