Dr. Angela Ehlers im Interview mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien

Der Verband Sonderpädagogik e.V. (vds) gratuliert Ihnen, liebe Frau Prien, herzlich zu Ihrer zweiten Legislatur als schleswig-­holsteinische Bildungsministerin und freut sich über die dadurch gewährleistete Kontinuität bei der Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz (KMK) in 2022, die doch gerade in Krisenzeiten sehr wertvoll ist.
Sie haben für die Arbeit als Präsidentin der Kultusministerkonferenz das Motto gewählt: Lernen aus der Pandemie. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern bitte erläutern, weshalb Ihnen dieses Motto so bedeutsam ist und was es gerade für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und Teilhabeeinschränkungen heisst?

Vorweg gesagt – ich stimme Ihnen zu, dass personelle Kontinuität besonders im Bildungs- und Wissenschaftsbereich in diesen unruhigen Zeiten außerordentlich wichtig ist, um lange Einarbeitungsphasen zu vermeiden und zügig zu Entscheidungen kommen zu können. Das Motto ist mir sehr wichtig, weil die Corona-Pandemie für Kinder, Jugendliche und ihre Familien eine sehr große Belastung gewesen ist. Sie ist verbunden mit nachhaltigen psychosozialen, zum Teil aber auch schwer-wiegenden körperlichen Folgen für die Schülerinnen und Schüler. Zum anderen sind aber auch Reformnotwendigkeiten in unserem Bildungssystem wie in einem Brennglas sichtbar geworden. Das gilt für die Ausstattung der Schulen und auch die pädagogische Professionalisierung im Bereich der Digitalisierung, aber auch viele Schulentwicklungsthemen sind sehr präsent geworden. Uns bietet sich jetzt die Chance, diese Themen anzugehen. Ein weiteres Thema ist „Personal an Schulen“ und da besonders „Professionen an Schulen“. Und die Pandemie hat noch etwas sehr Zentrales gezeigt: Schule ist eben nicht nur der Lern-Ort, sie ist Lebens-Ort, sozialer Ort und Heimat. Das gilt gerade auch für Kinder und Jugendliche in benachteiligenden Lebensbedingungen und mit allen Formen von Handicaps. „Lernen aus der Pandemie“ heißt, dass wir Schule immer prioritär offenhalten müssen. Es heißt aber auch, dass wir uns stärker auf die Funktion von Schule als Lebensort konzentrieren müssen. Die Digitalisierung eröffnet große Chancen für Kinder mit Behinderungen, die müssen wir jenseits von Pandemie und Krise dringend stärker nutzen und auch hier noch mehr Instrumente entwickeln und den Schulen zur Verfügung stellen.

Können Sie unseren Mitgliedern bitte vorstellen, welche Arbeitsschwerpunkte Sie aus Ihren Überlegungen für das laufende Präsidentschaftsjahr ableiten?

Hier sind in erster Linie zu nennen die dringend notwendige Strategiebildung in der digitalen Welt mit einer klaren Operationalisierung der Ziele, die Lehr- und Fachkräfteprofessionalisierung für Schulen, und die weitere Professionalisierung von Schulleitungen. Denn die Schulleitungen haben eine große Bedeutung bei der Krisenbewältigung – als Managerinnen und Manager einer gut gelingenden Schule in der Krise. Wir müssen auch diese Fragen beantworten: Wie können Kinder und Jugendliche insgesamt resilienter werden? Welche Zukunftskompetenzen müssen sie in einem Zeitalter erwerben, in dem Krisen zur Normalität werden? Ich mache da keinerlei Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen oder Handicaps. Von der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, der Stäwiko, erwarte ich mir kontinuierliche evidenzbasierte Stellungnahmen und Hinweise zu Prioritäten der Schulentwicklung. Ganz stark beschäftigt die KMK natürlich das Thema Lehrkräfte und Personalgewinnung. Und deutlich wird auch in allen Vergleichsuntersuchungen, dass sich bei den Schülerinnen und Schülern schwächere Kompetenzwerte in allen Schlüsselkompetenzbereichen bei gleichzeitiger immer größerer Heterogenität der Lerngruppen zeigen. Hier erwartet die KMK Verbesserungen auch durch das Aktionsprogramm Aufholen nach Corona (AnC).

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) haben das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ (AnC) bereitgestellt. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz hat die StäwiKo gebeten, eine Stellungnahme zu verfassen, in der Empfehlungen für Fördermaßnahmen im kommenden Schuljahr formuliert werden. Die StäwiKo hat hierzu fünf Empfehlungen für die Gestaltung des Schuljahrs 2022/23 vorgelegt (siehe unter www.kmk.org). Die unabhängige Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (Stäwiko) besteht aus 16 Personen, zwölf berufenen und vier ständigen Mitgliedern. Grundlage ist eine Verwaltungsvereinbarung aus 2021 zwischen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland zur Einrichtung dieses Gremiums (Hinweise der Redaktion).

Kommen wir nun zum aktuellen Stand der inklusiven Bildung. Sehen Sie hier an vielen Stellen auch wie etliche Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft eher eine Rolle rückwärts als zügige Schritte nach vorn in den Ländern? Und wo ist Ihrer Meinung nach der engagierte pädagogische Wille wahrzunehmen, Inklusion im Bildungsbereich umzusetzen und dazu eine enge und qualitätsgesicherte Kooperation im Sozialraum zu entwickeln und zu pflegen?

Ich kann Ihren Leserinnen und Lesern versichern, dass es keine politische Verabredung gibt und auch zu keiner Zeit gab, die inklusive Bildung zurückzufahren. Im Gegenteil ist die „Weiterentwicklung der Inklusion“ als politisches Vorhaben in der Ländervereinbarung der KMK adressiert und fester Wille aller 16 Länder. Nur ist die Art und Weise der inklusiven Bildung in den Ländern sehr unterschiedlich, Schleswig-Holstein ist hier schon weit vorangegangen. Zukünftig setzen wir aber nicht mehr darauf, die Inklusionsquote und damit die Quantität zu steigern, sondern stellen die Qualität in den Mittelpunkt. Genauso wie die Steigerung der Kompetenzen für inklusive Bildung durch Ausbildung. Wir müssen die Prozesse auf wissenschaftlicher Grundlage standardisieren. Dazu gehören für mich vor allem die Bereiche der Prävention, der Temporären Lerngruppen für spezifische Unterstützungsbedarfe, der Diagnostik und der Umsetzung guter Pool-Lösungen für Schulbegleitungen in den einzelnen Kreisen und Städten. Es gibt bereits viele Best-Practice-Modelle, die wir auswerten und auf dieser Grundlage Standards entwickeln wollen. Gemeinsam mit den Kreisen und kreisfreien Städten folgt dann die Umsetzung. Um auf Ihre Nachfrage einzugehen, so kann ich sagen, dass die Stäwiko bisher nicht beauftragt worden ist, vergleichbare wissenschaftlich fundierte Standards der inklusiven Bildung zu formulieren, aber ich halte das für gut denkbar. Allerdings müssen wir immer berücksichtigen, dass derzeit viele Aufträge platziert sind, die mit der qualitativen Weiterentwicklung der inklusiven Bildung korrespondieren wie die Themen Frühe Kindheit, Kita und guter Übergang in die Grundschule, Lehrkräftegewinnung und die Frage, welche Professionen brauchen wir zukünftig an Schule.

Der vds sieht nach wie vor die Notwendigkeit eines nationalen Bildungsrats, denn Krise folgt auf Krise und es existiert kein nationales Gremium mit Vertretungen aus Politik, Wissenschaft und NGO (Nichtregierungsorganisationen). Aus unserer Sicht kann die Stäwiko der KMK allein diese Aufgabe nicht bewältigen, sondern es bedarf der selbstbetroffenen Menschen und derjenigen, die sich als ihre Anwälte zur Sicherung von Teilhabe verstehen. Wie stehen Sie zu diesen Überlegungen?

Ich halte diese Diskussion nicht für weiterführend, denn sie ist auch nicht im Koalitionsvertrag der jetzigen Bundesregierung wieder aufgegriffen worden. Ein nationaler Bildungsrat ist vermutlich mit den großen Ländern derzeit auch überhaupt nicht umsetzbar. Gleichwohl halte ich die Forderung aus Verbandssicht für sehr verständlich, denn wir benötigen die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Die Bundesregierung plant einen Bildungsgipfel unter Einbeziehung von Verbänden und Selbstbetroffenen-Vertretungen – das sollten wir abwarten. Wir müssen die Zusammenarbeit der Länder in inhaltlichen Fragen deutlich intensivieren – das ist uns in den vergangenen zwei Jahren schon sehr gut gelungen in der KMK. Die Bereitschaft ist da, gemeinsam in eine Debatte zu gehen. Wir benötigen jedoch zunächst die wissenschaftliche Evidenz für Standards in der Inklusion, es folgt die politische Debatte und dann müssen die Verbände und natürlich die Betroffenen intensiv beteiligt werden. Gleichzeitig müssen wir lernen, mit knapperen Personalkapazitäten umzugehen, denn wir haben einen demographisch bedingten Fachkräftemangel, der auch ein Lehrkräftemangel ist. Es gibt aber Spielräume und es gibt Maßnahmen, die wir ergreifen können. Das muss eine tabufreie Debatte sein. Aber wir werden Personalkapazitäten konzentrieren müssen. Deshalb haben wir insbesondere die schwächeren Schülerinnen und Schüler im Blick. Auf diese rund 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind im aktuellen Schuljahr auch die Maßnahmen im Programm „Aufholen nach Corona“ abgestimmt – mit der besonderen Förderung der Basiskompetenzen Mathematik, Deutsch und Englisch zum Beispiel. Wir behalten aber auch die besonders begabten Schülerinnen und Schüler im Blick.

Auch wenn wir es schon kurz angesprochen haben, hier noch einmal die Nachfrage: Welche Bedeutung messen Sie der möglichst barrierearmen Digitalisierung in der inklusiven Bildung bei? Und wie kann aus Ihrer Sicht der Nachteilsausgleich für alle betroffenen Menschen in allen Ländern sicher gewährleistet werden (SGB IX, § 209)?

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass mir Lernmanagement-Systeme (LMS) und Angebote wie Flipped Classroom ganz besonders wichtig sind. Sie eröffnen große Möglichkeiten. Hier kommt es verstärkt auf eine gute Zusammenarbeit mit Hochschulen an, um digitale Angebote mit guter Qualität und barrierefreien Standards zu entwickeln, die alle Schülerinnen und Schüler nutzen können. Zur Frage des Nachteilsausgleichs kann ich sagen, wir kennen die gesetzlichen Grundlagen und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu. Das ist keine Willkür. Es gibt aber immer noch zu viele Unterschiede über die Länder hinweg. Aber: Es muss gewährleistet sein, dass Menschen, die einen Nachteilsausgleich brauchen, ihn auch bekommen. Das ist Chancengerechtigkeit. Deshalb ist es richtig, dass die KMK das Thema „Inklusion“ als ein politisches Vorhaben auf der Agenda der KMK hat und sich auf wissenschaftlicher Grundlage dem Thema Nachteilsausgleich annähert.

Flipped oder Inverted Classroom ist eine Bezeichnung für eine integrierte, sozusagen umgedrehte Lernform, in der Lerninhalte zu Hause von den Lernenden durch bereitgestelltes Material wie z. B. Videosequenzen erarbeitet werden und die Anwendung im Unterricht geschieht (Hinweise der Redaktion).

Der vds lädt ein zu einem Aktionsbündnis Fachkräftegewinnung – für alle Bildungs- und sozialen Bereiche. Hierbei soll es nicht darum gehen, besonders viel Lärm zu erzeugen, sondern möglichst viele verantwortliche, zuständige und interessierte Personen für diese Problematik zu sensibilisieren. Das Aktionsbündnis ruft dazu auf, gemeinsam über Lösungswege und kreative Ideen nachzudenken sowie innovative Konzepte für die Akquise von Fachkräften für den Bildungsbereich zu entwickeln. Hierzu stellen wir uns die Themenkomplexe Haltekraft von Einrichtungen, Psychohygiene, Gewinnung von zusätzlichen Kräften, Weiterentwicklung von Studien- und Ausbildungsgängen, Werbestrategien für soziale Berufe und Multiprofessionelle Teamentwicklung vor. Fehlen Ihnen hier wichtige Bereiche aus der Sicht der Politikerin und werden Sie die Vorschläge mit in die Arbeit der KMK aufnehmen bzw. wie werden Sie zur Fachkräftegewinnung im Bildungsbereich beitragen?

Wir bekommen zum Thema Fachkräftegewinnung auch Empfehlungen der Stäwiko und gehen dann in eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber. Das Aktionsbündnis Fachkräftegewinnung ist uns also ausgesprochen willkommen. Wir können für neue Vorschläge und Ideen gemeinsam eine hohe Akzeptanz entwickeln – zum Beispiel bei den Professionen und den Eltern. Mir fallen noch folgende Fragen ein: Welche Professionen brauchen wir zukünftig in Schule? Welche Aufgaben macht wer in Zukunft, um gute Bildung zu gewährleisten? Welche zusätzlichen Fachkräfte benötigen wir zum Beispiel im Bereich Verwaltung, Psychologie, Schulbegleitung und so weiter? Wie können grundständig ausgebildete Lehrkräfte entlastet werden von Aufgaben, die andere besser können? Wie sieht eine multiprofessionelle Schule dann aus? Andere Fragen: Wie können wir die ganztägige Bildung und Betreuung stärker einbinden? Wie nutzen wir insgesamt den Sozialraum und regionale Bildungslandschaften? Da würde ich mir einen mutigen Aufschlag der Verbände wünsche. Das Aktionsbündnis Fachkräftegewinnung kann einen sehr guten Beitrag leisten.

Wir nehmen wahr, dass es Ihr Ziel ist, die inklusive Bildung in dieser Legislatur wirklich voranzubringen. Das zeigt der schleswig-holsteinische Koalitionsvertrag sehr deutlich. Was geben Sie uns generell mit auf den Weg – welche Wünsche haben Sie an den Verband Sonderpädagogik?

Lassen Sie nicht nach. Sorgen Sie weiter dafür, dass die Belange der Kinder und Jugendlichen mit Teilhabeeinschränkungen im allgemeinen Krisenstrudel nicht ins Hintertreffen geraten. Helfen Sie uns dabei, ohne Denkverbote unser Bildungssystem weiterzuentwickeln.

Der Verband Sonderpädagogik (vds) bedankt sich bei der amtierenden Präsidentin der Kultusministerkonferenz ausdrücklich für die Bereitschaft und für die Zeit, mit uns dieses Gespräch zu führen sowie für den stets offenen Austausch und wünscht Ministerin Prien weiterhin Erfolg und starke Nerven.