Handbuch der sonderpädagogischen Diagnostik. Grundlagen und Konzepte der Statusdiagnostik, Prozessdiagnostik und Förderplanung

Gebhardt, Markus; Scheer, David & Schurig, Michael (2022)

Diagnostik ist eine Kernkompetenz aller Lehrkräfte. Unterricht kann ohne die Erhebung der Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler nicht qualitativ hochwertig geplant werden. Alle Lehrkräfte sollten damit grundlegend in Diagnostik ausgebildet sein. Im Zuge inklusiver Bildung, der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen, aber auch im Zuge der Notwendigkeit präventiver Maßnahmen im Kontext von Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten gewinnen diagnostische Tätigkeiten im schulischen Alltag enorm an Bedeutung. Die Ausbildung angehender Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung und die Fortbildung ausgebildeter Lehrkräfte zur Diagnostik in inklusions- und sonderpädagogischen Handlungsfeldern nimmt damit eine zentrale Stellung ein. Umso höher ist es den Herausgebern Markus Gebhardt, David Scheer und Michael Schurig anzurechnen, nicht nur ein sehr umfangreiches (fast 900 Seiten umfassendes) Handbuch der sonderpädagogischen Diagnostik veröffentlicht zu haben, sondern dieses im Open Access über die Regensburger Universitätsbibliothek kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Den drei Autoren ist es gelungen, eine außerordentlich große Zahl an 94 Autorinnen und Autoren für dieses große Buchprojekt zu gewinnen, die insgesamt 66 Beiträge verfasst haben. An diesen Dimensionen zeigt sich eindrücklich die Ambition, eine Vollständigkeit anzustreben, die selbstverständlich nicht erreicht werden kann. Und die Dimensionen zeigen, wie vielfältig und hoch komplex Diagnostik in sonderpädagogischen und inklusiven Kontexten ist.

Das Handbuch gliedert sich in sieben große Teile. Im Rahmen des einleitenden Teils werden nicht nur grundlegende Begriffe der Diagnostik eingeführt und definiert, sondern auch grundlegende Konzepte, wie z.B. die Kind-Umfeld-Analyse, Bezugsnormorientierung im Unterricht oder datenbasierte Entscheidung (data-based Decision Making), näher vorgestellt. Mit weiteren Aufsätzen zur Diagnostik im Sekundarstufenbereich und Anerkennungsethischen Aspekten liegt das Hauptaugenmerk auf dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen. Der zweite Teil beschäftigt sich einerseits mit allgemeinen Grundlagen von Diagnostik, so z.B. den Grundlagen von Beratung, mit Intelligenz als Konstrukt oder mit exekutiven Funktionen. Andererseits fassen die Herausgeber in diesem Teil auch eher spezifischere Grundlagen, wie die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit, Assistiver Technologien und der Diagnostik verschiedener Aspekte aus dem Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung darunter. Als Handbuch, das auch Lehrbuch für Studierende sein möchte, dürfen testtheoretische Grundlagen nicht fehlen, die sich über nur knapp 100 Seiten im dritten Teil erstrecken. Dabei werden nicht ausschließlich die klassischen Inhalte thematisiert, sondern vor allem für die Sonderpädagogik bedeutsame Aspekte wie Boden- und Deckeneffekte, Testfairness, Screenings und das adaptive sowie dynamische Testen. Für Lehrkräfte ist dies sicher nicht die übliche Lektüre, aber sehr bedeutsam bei der Anwendung in diagnostischen Situationen im Alltag.

Der vierte Teil des Herausgeberbands ist der von der Seitenzahl her umfangreichste Teil, aber inhaltlich sicher auch der Teil, der das aktuell am meisten diskutierte Thema – die Status- und die Feststellungsdiagnostik – aufgreift. Dementsprechend wird nicht nur ein Überblick über das Feststellungsverfahren zu sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen von verschiedenen Autorinnen und Autoren gegeben sowie diskutiert, sondern auch ganz konkret die Feststellungsdiagnostik spezifischer Behinderungen, Auffälligkeiten und Störungsbilder (Autismus-Spektrum, komplexe Behinderung, Kommunikationsfähigkeit, Leseverständnis u.v.m.) thematisiert. Die Prozessdiagnostik schließt sich inhaltlich genuin im fünften Teil an. Die Teile sechs und sieben weiten das Feld des Bands, indem die Förderplanung in verschiedenen Bereichen thematisiert wird und zahlreiche Praxisbeispiele beschrieben sind, die einen Transfer in den Alltag erleichtern können.

Insgesamt ist der Herausgeberband inhaltlich mit einer großen Spannweite gut gelungen. In einigen Teilen stellt sich allerdings die Frage, weshalb die Kapitel so angeordnet sind, wie sie es sind, wenn z.B. die Diagnostik bei Komplexen Kommunikationsstörungen im Teil fünf zur Prozessdiagnostik verortet wird, obwohl diese inhaltlich nur ein Viertel in diesem Bereich thematisiert. Hier zeigen sich das Potential und die Gefahr eines solch großen und umfangreichen Werks. Es birgt die Gefahr, Wiederholungen zu beinhalten, auf Vollständigkeit zu setzen, ohne sie erreichen zu können oder dass eine inhaltliche Zuordnung erschwert ist, wenn es im Teil Förderplanung weniger um eben Förderplanung, sondern eher um die Förderung und Intervention in spezifischen Bereichen wie Lesen, Rechtschreibung, Sprache oder Mathematik geht.

Das größte Potential ist in der Idee der Offenheit zu sehen: Als ein rein digitales Werk können neue Ausgaben und Ergänzungen quasi jederzeit und schnell hinzugefügt werden. In einer Zeit, in der sich Diagnostik derart im Umbruch und in der Weiterentwicklung befindet, ist dies eine bemerkenswerte Herangehensweise und sehr zukunftsorientiert. Aufgrund der vielfältigen Autorinnen und Autoren, die grundlegend die wichtigsten Bereiche sonderpädagogischer Diagnostik aufarbeiten, ist dieses Handbuch ein wertvolles Lehrbuch sowohl in der ersten, der zweiten als auch dritten Phase der Lehrkräftebildung. Die knapp 900 Seiten sind natürlich nicht „durchzuarbeiten“, sondern bilden eine umfangreiche Sammlung, die als Nachschlagewerk wichtiger Inhalte dienen kann und sollte.

Conny Melzer