Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit

Degenhardt, Sven (Hrsg.) (2025).

Die Buchreihe „Inklusion in Schule und Unterricht“ enthält mehrere Bände, um inklusiven Unterricht aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – alle sonderpädagogischen Schwerpunkte sowie verschiedene Bereiche der Bildung (z.B. Kindertageseinrichtungen, berufliche Bildung). In diesem Jahr ist nun auch der Band für den sonderpädagogischen Schwerpunkt Sehen von Professor Dr. Sven Degenhardt heraus gegeben worden. Im sehr lesenswerten Vorwort schreibt Sven Degenhardt, warum der Band nicht den Begriff der KMK-Empfehlungen „sonderpädagogischer Schwerpunkt“ aufgreift. Es erfolgt keine Beschreibung der Lernenden, sondern es geht „um den Blick auf die Barrieren, deren Vermeidung, Entdeckung und Abbau […]“ (S.12). Damit fokussiert der Band also die „barrierefreie[.] Gestaltung von Lehr-Lern-Settings für alle Lernenden“ (S.12f.). Der Band ist in fünf thematische Kapitel eingeteilt, in denen namhafte Kolleginnen und Kollegen des Fachs aus ganz Deutschland sowie international Forschende zu Wort kommen. Das erste Kapitel gestaltet der Herausgeber selbst und umreißt inklusive Handlungsfelder im Hinblick auf Beeinträchtigungen des Sehens und Blindheit. So beschreibt er einerseits die Inklusionsdebatte unter Rückbeziehung auf allgemein bekannte Quellen und andererseits in konsequenter Reflexion dieser mit Blick auf Beeinträchtigungen des Sehens und Blindheit. Neben einem historischen Exkurs ist insbesondere die Beschreibung der Modelle inklusiver Bildungssettings interessant für die Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen.

Im zweiten Kapitel wird bei der Darstellung internationaler Entwicklungen eine ungewöhnliche, aber sehr kurzweilige gewählt: Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Japan, Großbritannien (und Schottland, Nordirland), Kuba, Luxemburg, China, Spanien sowie den USA.

Den Kern des Bands, der aus meiner Sicht die meisten praktischen Anregungen bietet, bildet das Kapitel drei. So wird „das Spezifische Curriculum für Kinder und Jugendliche mit Blindheit und Sehbehinderung und seine Bedeutung für inklusive Lehr- und Lernprozesse“ (Marie-Luise Schütt, S.93) vorgestellt. Wenngleich die Einführung vor dem eigentlichen Kapitel etwas lang gerät und auch Wiederholungen zum Vorwort beinhaltet, sind insbesondere die beiden Tabellen (S.101f.) inhaltlich hoch relevant. Dies trifft auch auf Lehrmittelentwicklung im Rahmen von Prozessen der Digitalisierung und barrierefreie Bildungsbauten zu. Insbesondere werden exemplarisch Bereiche beschrieben, wie diese barrierefrei gestaltet werden können (z.B. Lichtbedingungen, akustische Bedingungen). Den zweiten sehr praktischen Aufsatz in Kapitel 3 gestaltet Wibke Gewinn zur individuellen Bildungsplanung (ab S.110).

Die Grundlagen werden allgemein umrissen, aber an praktischen Beispielen aus dem Bereich der Pädagogik und Didaktik der Beeinträchtigungen des Sehens und bei Blindheit dargestellt. Flankiert wird dies von Dokumentationsbögen, die sowohl eine Beobachtung als auch Veränderungsvorschläge beinhalten. Auf diese Weise findet eine idealtypische Verbindung von Theorie und Praxis statt. An diese grundlegenden Überlegungen schließen sich konkrete Ausführungen für verschiedene Lernbereiche an. Während Leseförderung und (Markus Lang & Fabian Winter) sowie der Mathematikunterricht (Juliane Leuders) relevante und zentrale Aspekte wiederum allgemein und dann mit Bezug auf die Pädagogik und Didaktik der Beeinträchtigungen des Sehens und bei Blindheit aufgreifen, sticht der Beitrag von Dino Capovilla zur Sozialen Kompetenz heraus. Als Sonderpädagogin, die nicht im sonderpädagogischen Schwerpunkt Sehen ausgebildet ist, sind hier bekannte Ansätze ausgeführt (Normalisierungsansatz), die mich zum Nachdenken über die eigene Praxis anregen. Auch der Beitrag zum Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht von Marie-Luise Schütt ist besonders praxisorientiert geschrieben und schließt explizit Ausführungen ein, die alltagsrelevant im inklusiven Unterricht sind. Das vierte Kapitel, vollständig von Christoph Herz und Andrea Warnka, widmet sich der „Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Komplexen Beeinträchtigungen und Beeinträchtigungen des Sehens an Bildung“ (ab S.182). In diesem Kapitel wird ein wenig vom Grundsatz abgewichen und doch die Zielgruppe definiert, wohl um die Bildungsbarrieren ein ordnen zu können. Kern auch dieses Kapitels und am umfangreichsten ist der Absatz „Was ist zu tun“ (S.186), in dem Diagnostik und abermals Bildungsinhalte thematisiert werden.

Der umfassende Band wird vom fünften Kapitel zum Interdisziplinären Netzwerk (ab S.202) abgeschlossen, das in fünf Beiträgen von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen gestaltet wurde. Es thematisiert Bildungsbauten (Beke Illing-Moritz), erwachsenenpädagogische Bezüge (Sabine Lauber- Pohle), die Schnittstelle Gesundheit und Bildung ( Verena Kerkmann u.a.), Mensch-Computer-Interaktion (Gerhard Weber) sowie barrierefreie Medienvielfalt (Thomas Kahlisch & Andrea Katemann). Auch wenn dieses Kapitel eher fachlicher orientiert ist, weist dies auch wieder viele praxisrelevante Bezüge auf. Insgesamt ist dieser Band sehr für alle in der Inklusion Tätigen zu empfehlen, die sich mit dem Thema Barrierefreiheit allgemein auseinandersetzen, da dies am Beispiel der Kinder und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigungen bzw. blinden Kindern und Jugendlichen sehr deutlich wird. Es gibt einen fundierten Überblick und praxisnahe Beispiele insbesondere in Kapitel 3 und zeigt damit, wo wir alle noch mehr „hinsehen“ sollten.

Conny Melzer