Inklusion Leben! Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft

Heimlich, Ulrich (2025).

„Noch ein Buch zu Inklusion“ … so schreibt es Ulrich Heimlich selbst in den Danksagungen des Buchs.

Ich muss zugeben: Als ich das Buch in den Händen hielt, ging mir genau das durch den Kopf. Es ist aber ein komplett anderes Buch als ich es bis dato von Ulrich Heimlich kannte, denn es ist ein Sachbuch, kein Fachbuch. Und es ist noch mehr. Ulrich Heimlich war über 40 Jahre lang wissenschaftlich tätig und fast genau so lang forscht und veröffentlicht Ulrich Heimlich in diesem Themenfeld – ein langer Weg, der noch nicht beendet ist. Also wieso braucht es „noch ein Buch zu Inklusion“? Weil es ein Sachbuch ist, das auf jeder Seite die vielen wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen des Autors in diesem Feld widerspiegelt.

So stellt Ulrich Heimlich im Prolog die wichtige Frage, warum die Inklusion stockt und liefert dabei eine kleine Analyse der Gesellschaft, quasi ein kritischer Rundumschlag, der eine Ursache in einem „grundlegenden Widerstand gegen jegliche Formen von Veränderungen“ (S.9) in unserem konservativen Land sieht. Daraus folgt ein wichtiges Ziel, das der Autor mit dem Sachbuch verbindet, und zwar das „Thema Inklusion mitten in die Gesellschaft holen“ (S.12). Er möchte das als Sonderpädagoge mit einem sonderpädagogischen Blick, aber breit, bezogen auch auf andere Diversitätsdimensionen (Gender) und auch außerhalb von Schule in einer kreativen Gesellschaft erreichen.

Ob ihm das gelingt? Das Buch gliedert sich neben dem Prolog und einem Epilog in neun Kapitel. An dieser Stelle werden nicht alle Kapitel umrissen, sondern ich habe mich entschieden, besondere Aspekte hervorzuheben, die ich als besonders lesenswert einschätze und das „Neue“ noch eines Buchs zu Inklusion ausmachen.

Im Kapitel (1) Teilhabe, Teilgabe, Teilsein thematisiert der Autor gut verständlich u.a. die klassischen Themen um Inklusion als Völkerrecht und die UN-BRK, auch die geschichtliche Frage der Entwicklung von Exklusion zu Inklusion sowie die Frage nach Teilhabe und Selbstbestimmung. Besonders eindrücklich ist in diesem Kapitel die Definition, was Ulrich Heimlich unter „Inklusive Momente“ versteht: „Inklusive Momente bilden deshalb den Kern inklusiver Prozesse. Sie entstehen immer dann, wenn das
Spannungsverhältnis zwischen…der Fähigkeit zu denken und zu sprechen auf der einen Seite und der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, zu Gefühlen und zu sozialen Beziehungen auf der anderen Seite (personaler Aspekt),…Individualisierung und Gemeinsamkeit (sozialer Aspekt) und…Offenheit und Struktur (situationsbezogener Aspekt) in eine Balance gebracht werden kann“ (S. 26). Diese inklusiven Momente beschreibt Ulrich Heimlich an verschiedenen Stellen im Buch, greift diese in Form von Fallbeschreibungen auf, schildert damit eben gelingende inklusive Momente.

Das dritte Kapitel heißt „Geschlecht selbst bestimmen?“ Zunächst hat mich verwundert, dass Ulrich Heimlich zur Problematik Patriarchat und Frauen in Wissenschaft und anderen Bereichen betrachtet. Kurzweilig ist hier die Geschichte der Frauenbewegung zusammengefasst – von Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer bis Judith Butler – und schließt eben ab mit der Unterscheidung von Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender). Ein bisschen ist dieses ein Exkurs, weil alle anderen Kapitel mehr oder weniger an den Aspekten von behindert werden und behindert sein orientiert ist. Die Begründung ist so einfach wie auf der Hand liegend: „Wer verstehen will, wie Exklusion in Geschichte und Gegenwart funktioniert, der sollte Frauen fragen. Sie kennen sich damit aus, seit mehr als 5.000 Jahren“ (S.58).

Auch das vierte Kapitel enthält kurzweilig und sehr verständlich zusammengefasst Zusammenhänge von Diskriminierung und Sprache, den Aufschwung des Rechtsextremismus sowie die Bedeutsamkeit von Demokratie für Inklusion. „Sprache verändert Sein?“ (S.70). Hier sind Etiketten angesprochen und wann sie problematisch werden. „Zum Problem werden Etiketten jedoch erst, wenn sie pauschal eine Gruppe bezeichnen. In diesem Moment wird dem einzelnen Menschen seine Individualität genommen“ (S.71). Beim Lesen dieses Abschnitts habe ich unweigerlich an viele diskriminierende Ausdrücke denken müssen, die ich nicht nur mit Menschen mit Behinderungen höre– wie in meinem Forschungsfeld gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten in Schule durchaus gesprochen wird („der muss nicht gefördert werden, der geht eh bald auf die Förderschule“) – sondern auch bezogen auf People of Color, Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. Fluchterfahrungen. Verbindet deshalb Ulrich Heimlich in diesem Kapitel Sprache, Diskriminierung und Rechtsextremismus?

Die weiteren Kapitel beschäftigten sich mit inklusiven Institutionen, mit Haltungen zu Inklusion und Vielfalt, mit inklusiven Netzwerken, dem Auflösen von Denkverboten und sie greifen viele inklusive Momente auf. Ist es Ulrich Heimlich also gelungen, Inklusion in die Gesellschaft zu holen? Das Sachbuch ist verständlich geschrieben, die Literatur wird als Endnote für jedes Kapitel am Ende des Buchs gebracht. Ich halte es also für erstens einen sehr guten Einstieg für Menschen, die sich mit Inklusion beschäftigen wollen, für zweitens ein Buch, das auch schon mit dem Thema Inklusion vertraute Menschen Anregungen für weitere Denkmuster und Verbindungen bietet und drittens auch eine Zusammenfassung des Wirkens von Ulrich Heimlich darstellt. Das Buch schließt mit den eigenen inklusiven Momenten des Autors: „Nach vielen Jahren des Forschens und Schreibens über Inklusion habe ich jetzt das Gefühl, dass ich Inklusion leben kann“ (S. 172).

Conny Melzer