KMK-Empfehlungen: Geistige Entwicklung

Nun sind sie da – die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat die Überarbeitung der Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, die aus dem Jahr 1998 stammten, unter diesem neuen Titel im März 2021 einstimmig verabschiedet. Diese Empfehlungen werden auf der Internetseite der Kultusministerkonferenz veröffentlicht und der Verband Sonderpädagogik e.V. (vds) hat wiederum zugesagt, auf eigene Kosten eine Übertragung in Leichte Sprache vorzunehmen und den entsprechenden Link der KMK – wie auch bereits beim sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen – zur Verfügung zu stellen. Denn dieser sonderpädagogische Schwerpunkt ist bereits seit März 2019 überarbeitet und verabschiedet.

Zum Hintergrund der neuen Empfehlungen

Circa 16% aller Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung zuerkannt bekommen haben, zählen zum Schwerpunkt Geistige Entwicklung. Von diesen Schülerinnen und Schülern wird der überwiegende Anteil nach wie vor an Förderschulen mit diesem Schwerpunkt unterrichtet. Der deutlich kleinere Teil besucht ein inklusives Bildungsangebot an einer Allgemeinen Schule. Darüber hinaus besuchen zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die diesem Förderschwerpunkt zugeordnet werden, Förderschulen bzw. Förderzentren anderer Förderschwerpunkte. Unabhängig vom Bildungsort sind die neuen Empfehlungen für die schulische Bildung aller dieser Schülerinnen und Schüler in einem umfassend inklusiven Verständnis handlungsleitend.

Kerngedanke der Überarbeitung aller sonderpädagogischen Schwerpunkte ist es, die Tragfähigkeit aller Allgemeinen Schulen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips der Sonderpädagogik zu stärken, die Anzahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss zu senken und für alle Jugendlichen eine angemessene Anschlussfähigkeit und berufliche Orientierung zu erreichen. Deshalb findet die Überarbeitung jeweils unter Mitwirkung von Vertreterinnen und Vertretern der Allgemeinen Pädagogik und der Beruflichen Bildung statt.

Die Empfehlungen knüpfen bewusst an den Beschluss der KMK von 2011 zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen an und berücksichtigen Veränderungen in den Ländern wie den Ausbau sonderpädagogischer Maßnahmen und die Ausweitung der sonderpädagogischen Bildungsangebote im Schwerpunkt Geistige Entwicklung in den Allgemeinen Schulen. Sie gliedern sich wie folgt:

0. Vorwort

I. Ziel der Empfehlungen

I.1 Kinder und Jugendliche mit Bedarf an Bildung, Beratung und Unterstützung im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung

I.2 Folgerungen für Bildung, Erziehung und Unterricht

II. Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote

II.1 Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote mit präventiver Wirkung

II.2 Bildungsangebote im allgemeinbildenden und berufsbildenden Bereich

III. Festlegung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Geistige Entwicklung

III.1 Sonderpädagogische Diagnostik und Bildungsplanung

III.2 Leistungsmessung und Leistungsbewertung

III.3 Abschlüsse

IV. Personal im Unterricht

V. Organisation schulischer Bildung in regionalen Netzwerkstrukturen

Die Empfehlungen betonen deutlich

  • den Unterstützungsauftrag der Sonderpädagogik für die Allgemeinen Schulen
  • einen entwicklungsorientierten Ansatz, der dem Unterstützungsbedarf der Schülerinnen und Schüler sowie dem Empowerment-Anspruch Rechnung trägt
  • die Notwendigkeit des Handelns in regionalen Netzwerken mit der Zielvorstellung eines selbstbestimmten Lebens im bekannten Sozialraum
  • die individuelle Bildungsplanung auf der Basis einer entwicklungs- und prozessorientierten Diagnostik
  • ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sowie an Aktivität und Teilhabe durch schulische Bildung
  • die Notwendigkeit einer individuellen Leistungsmessung und Leistungsbewertung, die sich auf den individuellen Lernfortschritt und individuellen Kompetenzerwerb beziehen.

Die Empfehlungen stellen klar, dass im Schwerpunkt Geistige Entwicklung kein normorientierter Abschluss vergeben wird, sondern dass am Ende der Schullaufbahn alle Schülerinnen und Schüler ein Zeugnis erhalten, in dem die erworbenen Kompetenzen und Stärken ausgewiesen werden. Nach landesrechtlichen Vorgaben können eigene Abschlüsse im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung vergeben werden.

Ein erster Entwurf ist frühzeitig in einem Fachgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern von Zivilgesellschaft und Wissenschaft diskutiert und konsensfähige Diskussionspunkte sind vollständig in die Empfehlungen eingearbeitet worden. Die wichtigsten diskutierten Fragestellungen werden hier in aller Kürze mit wenigen Aspekten dargestellt:

Ist die Dichotomie von Nähe und Distanz angemessen, korrekt und ausreichend berücksichtigt?

  • Berücksichtigung von Körperlichkeit als ein zentraler Zugang für Bildung
  • Betrachtung der Dichotomie von Gruppe und Selbstbestimmung
  • Aushalten von Spannungsfeldern in einer besonders zu reflektierenden Weise (leichte Beeinflussbarkeit, soziale Zustimmungsbereitschaft, besondere Bedürfnislagen, Gefährdungen, …)
  • ständige Vermittlung zwischen den Polen der Alters- und Entwicklungsangemessenheit
  • unter der Prämisse des Empowerment-Gedankens Bewahrung vor Instrumentalisierung und Bevormundung
  • Altersangemessenheit (Lebensalter) bei der Auswahl von Bildungsangeboten in Bezug auf alle Bereiche des Lebens, wie z.B. Kleidung, Geldgeschäfte usw. und besonders auch Sexualität

Soll die Zusammenarbeit mit Eltern und Angehörigen in diesem Schwerpunkt besonders berücksichtigt werden?

  • Elternzusammenarbeit als Kommunikationspartnerschaft und Lehrkräfte als Übersetzer von Situationen und Begebenheiten – Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule als Dialogprozess und Wertschätzung gegenüber allen Eltern
  • hohe Bedeutung der Kenntnisse des Elternhauses bzw. der individuellen Lebenssituationen für alle Bildungsprozesse
  • Vermittlung in andere Hilfesysteme

Welche Daten, Zahlen, Fakten, Kombinationsformen etc. zur Beschreibung der Personengruppe im Schwerpunkt Geistige Entwicklung sind zu berücksichtigen und ist hierzu die korrekte Darstellungsform gewählt?

  • breites Spektrum und hohe Heterogenität auch innerhalb einzelner Schülergruppen im Schwerpunkt Geistige Entwicklung und viele Überschneidungen zwischen den Gruppen
  • Systematisierung nach Entwicklungsbereichen anstatt nach Behinderungsgruppen
  • Beachtung von subjektiver Lebensqualität, Pflege als Bildung, aktivierende Pflege mit dem Ziel der Teilhabe und Selbstbestimmung
  • Hinweise auf Kombinationen, z.B. mit Autismus-Spektrum-Störungen mit kognitiven Einschränkungen, mit Sinnesbehinderungen, psychischen und psychiatrischen Erkrankungen etc. in großer Bandbreite

Ist der Text ausreichend lernortunabhängig formuliert bzw. ist lernortunabhängiges Lernen im System Schule für alle Schulformen angemessen dargestellt?

  • Argumentation deutlich aus dem Blickwinkel des Lernorts Allgemeine Schule
  • Ausdifferenzierung des Begriffs der Kultur bzw. der kulturellen Teilhabe und Blickrichtung auf fachlich- kulturelle Bildung (Klafki) – kategoriale, individuelle, basal-adaptiv-fördernde Lernangebote müssen sich die Waage halten
  • Schwerpunktsetzung auf Kulturpraxis statt auf Lebenspraxis

Ist das Spannungsfeld von Lebens- und Entwicklungsalter ausreichend berücksichtigt und qualifiziert dargestellt?

  • Reflexion des Spannungsfelds vor dem Stand der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion und im Kontext der Auswahl von Bildungsinhalten
  • Betrachtung im Zusammenhang mit der Kategorisierung der Unterstützung in den verschiedenen Dimensionen menschlicher Entwicklung – Themen und Inhalte vom Lebensalter her definieren und im Hinblick auf die jeweilige Bedeutung für die Entwicklung priorisieren sowie den Bildungsgedanken stärken
  • Einbeziehung therapeutischer Konzepte in Unterricht und schulische Bildungsprozesse Ist durch den Text der Auftrag der Sicherung des Zugangs zu Bildung dargestellt und sind Digitalisierung, assistive Technologien und Medienbildung insgesamt umfassend genug berücksichtigt?
  • intensive Berücksichtigung digitaler Medien an allen Lernorten
  • Entwicklung unterstützungsschwerpunktspezifischer Medienkonzepte und Mediennutzung als Kulturpraxis
  • Darstellung der Bedeutung assistiver Technologien
  • Besondere Aufmerksamkeit auf Verfügbarkeit und Einsatz digitaler Medien an allen Lernorten

Ist die Metaebene des Lernens – das Lernen lernen, das eigene Lernen reflektieren – ausreichend in den Blick genommen?

  • klare Fokussierung auf Schülerinnen und Schüler als Subjekte ihres eigenen Lernens, Akteure der eigenen Bildung und Entwicklung sowie auf die je eigene Konstruktion von Wirklichkeit
  • Lernen als aktiver Aneignungsprozess von Welt
  • Entwicklung von Autonomie und Selbstwirksamkeitserfahrung durch Lernentwicklungsgespräche, Förderplanungsbeteiligung etc.

Sind die Begrifflichkeiten Ganzheitliches Lernen, Selbsttätiges Lernen, Handelndes Lernen korrekt gewählt und gefüllt?

Zugrundelegung eines Verständnisses von Empowerment auf der Grundlage der Prinzipien nach Theunissen im Sinne der

  • Vertrauensstiftenden Vorgehensweise
  • Begünstigenden Auswirkungen auf Lernen und psychische Gesundheit (dialogisches Vorgehen, gegenseitige Sympathiebeziehungen und Verlässlichkeit)
  • Subjektzentrierten Vorgehensweise
  • Einbindung jedes Menschen mit Behinderung in das Bildungsgeschehen mit seinen subjektiven Perspektiven
  • Autonomieorientierten Vorgehensweise
  • Verständnis vom Menschsein als autonomes System, das sich im Austausch und in der Auseinandersetzung mit der Umwelt selbst organisiert und reguliert
  • Identitätsstiftenden Vorgehensweise
  • Ermöglichung vielfältiger Erfahrungen zur personalen und sozialen Identität durch Bildung und Unterricht
  • Aktivitätsanregenden Vorgehensweise
  • Anstiftung zu Eigenaktivitäten, um durch eigenes Handeln die Welt zu erfahren und entsprechende Kompetenzen aufzubauen
  • Sinnstiftenden Vorgehensweise
  • Subjektiven Bedeutsamkeit von Lernen und Bildung für jeden Einzelnen
  • Entwicklungsgemäßen Vorgehensweise
  • Orientierung am Verlauf der menschlichen Entwicklung bei jeder pädagogischen Unterstützung
  • Sozialerzieherischen Vorgehensweise
  • Initiierung sozialer Lernerfahrungen
  • Bewusstseinsbildenden Vorgehensweise
  • Initiierung eines kritischen Bewusstseins bei Schülerinnen und Schülern.

Abschließend seien noch einmal grundsätzlich Stellenwert und Bedeutung von KMK-Empfehlungen bei jeweils länderspezifischen Zuständigkeiten benannt. Es handelt sich um Impulspapiere mit dem Ziel, möglichst eine bundesweite Verständigung auf handlungsleitende Fachpositionen zu initiieren, die die Grundlage für Curricula und Richtlinien in den Ländern bilden können. Sie bilden den aktuellen Sachstand mit Zukunftsorientierung für Schule, weitere Bildungseinrichtungen und Wissenschaft ab. Ziel ist es, damit bundesweite fachliche (sonder-)pädagogische Qualitätsstandards zu setzen, ohne dabei Konnexitätsfragen in den Ländern zu berühren.

Die Grundlage der Überarbeitung der sonderpädagogischen Schwerpunkte bildet in jedem Fall eine Bestandsaufnahme in den Ländern zu den verschiedenen Möglichkeiten, sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf festzulegen und Bildungsabschlüsse zu erreichen. Es handelt sich also um Begrenzungspapiere – oder die klare Benennung, wofür Sonderpädagogik eben nicht zuständig ist.

Gleichzeitig lässt sich nicht verhehlen, dass es große Unterschiede bzgl. der definierten Zielgruppen und Organisationsformen in den Ländern sowie eine große Schwankungsbreiten in der Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die definierte besondere (sonder-) pädagogische Unterstützungsbedarfe haben, gibt und sicherlich auch weiterhin geben wird.

Das Ringen um die für alle Schülerinnen und Schüler besten fachlichen Positionen, um das Verhältnis der sonderpädagogischen Schwerpunkte untereinander, um ein möglichst einheitliches Verständnis von bildungsprozessbegleitender Diagnostik sowie Feststellungsverfahren, um Dokumentationsformate und individuelle (sonder-) pädagogische Bildungsplanung (Förderplanung) sowie Prävention eines (sonder-) pädagogischen Unterstützungsbedarfs eint die Referentinnen und Referenten für Sonderpädagogik und Inklusion aller Länder in der KMK.