Musik – Vielfalt – Integration – Inklusion. Musikdidaktik für die eine Schule.

Merkt, Irmgard (2019)

Nach der aufmerksamen Lektüre von Irmgard Merkts musikalischer Didactica Magna kommen mir unwillkürlich diese klingenden Verse von Joseph von Eichendorffs „Wünschelrute“ in den Sinn. Und das Diktum „Die Welt ist Klang“ des damaligen Südwestfunk-Jazz-Redakteurs Joachim Ernst Berendt von 1983 geht mir als zweite Assoziation durch den Kopf. Die emeritierte Professorin für Musikerziehung und Musiktherapie an der Technischen Universität Dortmund legt mit dem vorliegenden Buch den „Entwurf einer Musikdidaktik für die inklusive Schule“ (S.9) vor. Dies klingt zunächst bescheiden. Im weiteren Verlauf der Lektüre zeigt sich jedoch ein wesentlich umfassenderes Bild, denn das Buch bietet weit mehr als ‚nur‘ Musikdidaktik: Es liefert konzeptionelle und praktikable Elemente zur Realisierung einer Schule für alle, in der am gemeinsamen Gegenstand differenzierend und individualisierend in heterogenen Gruppen, teils fächerübergreifend effizient gelernt werden kann.

In sorgfältiger Recherchearbeit wird dazu zunächst die Geschichte der „Behindertenpädagogik“ dargestellt und vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer und konzeptioneller Strukturen und ihren Weiterentwicklungen von der fachrichtungsspezifischen Ausdifferenzierung über die ersten Integrationsentwicklungen bis zum Inklusionsparadigma kritisch – soziologisch, pädagogisch und politisch – reflektiert. Merkt spannt dabei den Bogen von den ersten pädagogischen Bemühungen des französischen Arztes Jean Itard im 19. Jahrhundert mit seinem als „Wolfskind“ wild aufwachsenden Jungen Victor über die deutsche „Hilfsschule“ der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus zur erst sehr spät politisch-historisch und wissenschaftlich aufgearbeiteten Nachkriegszeit, in der zunächst die altern Strukturen der „Hilfsschularbeit“ unreflektiert erhalten geblieben waren, bis hin zu den Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre mit dem Ausbau des Sonderschulwesens mit ihren zwölf eigenständigen Sonderschulformen, hin zu den ersten integrativen Reformbemühungen. Die „inklusive Schule“ als „Schule für alle“ wird schließlich in der konkreten Utopie von Irmgard Merkt ganz einfach zur „Schule“ (!). Das notwendige didaktische Konzept orientiert sich dabei an Georg Feuser, der schon seit den 1980er Jahren eine „Entwicklungslogische Didaktik“ und das „Lernen am Gemeinsamen Gegenstand“ forderte, erprobte und vor dem Hintergrund der Theorie Wygotskijs als „Lernen in der nächsten Zone der Entwicklung“ wirksam in den Fachdiskurs einbrachte. Merkt dazu: „Das Musikmachen ermöglicht das Zusammenwirken von elementaren mit hoch elaborierten musikalische Aktionen, ermöglichst die Gleichzeitigkeit von spieltechnisch einfachen und anspruchsvolleren, von reproduzierenden und improvisierenden Passagen innerhalb eines Stücks. Das „Elementare“ und das „Elaborierte“ kann im Musikmachen ohne Qualitätsverlust gleichzeitig stattfinden – ein für die Pädagogik unschätzbarer Vorteil dieser künstlerischen Disziplin“ (S.114). Man denkt an Joseph Beuys‘ „erweiterten Kunstbegriff“, wenn Irmgard Merkt im Sinne ihres fächerübergreifend-integrativen Konzepts ein „erweitertes Verständnis von Musikunterricht“ (S.202) verlangt. Die sowohl aktive als auch rezeptive und reflektive unterrichtliche Beschäftigung mit Musik kann an alle Dimensionen des „Fundamentalen“, des Elementaren“ und des „Exemplarischen“ in dem von Wolfgang Klafki geforderten Bildungsverständnis berücksichtigen. Und die „Entwicklungslogische Didaktik“ Georg Feusers ermöglicht die notwendige Differenzierung und Individualisierung und das Lernen innerhalb hoch heterogener Gruppen.

Die Integration unterschiedlicher kultureller Identitäten und die uneingeschränkte Akzeptanz individueller Subjekte im Sinne des Inklusionsgebots wird dadurch pädagogisch, didaktisch und methodisch möglich und exemplarisch dargestellt (vgl. dazu Kapitel 7 Musik – Vielfalt – Integration – Inklusion, S.247ff.). Geradezu spannend ist das Kapitel 6 „Entwicklungspfade Musik“ zu lesen. Am Beispiel der sogenannten „Chladnischen Figuren“ wird das physikalische Phänomen „Klang“ sichtbar gemacht. Vor 200 Jahren kam der Naturforscher Ernst Florens Friedrich Chladni auf die Idee, Glasplatten mit Sand zu bestreuen und sie mit einem Geigenbogen anzustreichen, sodass der Sand den jeweiligen Bogenstrich in unterschiedliche symmetrische Figuren abbildete (S.212ff.). In diesem Kapitel wird dem historischen Ursprung der Musik nachgegangen, das Phänomen „Hören“ von der pränatalen Phase des Herzschlags bis zum Prozess des Spracherwerbs nachgezeichnet und darüber die Möglichkeiten eines „spürenden Musikhörens“ fruchtbar gemacht, wie es beispielsweise Andreas Fröhlich in seinem therapeutischen Konzept der „Basalen Stimulation“ für Menschen mit schwersten Behinderungen entwickelt und wirkungsvoll eingesetzt hat. Irmgard Merkts Musikdidaktik ist nur in einem „Dreiklang der Kulturen“ zu realisieren: Die Unterrichtskultur mit einem „Lernklima ohne Beschämung“, macht das Fach Musik zu einem nachhaltigen Erfahrungsraum für alle Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer, die Erfahrungskultur lässt zu, dass unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Sozialisationsräumen ihr jeweiliges Verständnis von Musik „spielerisch, kreativ und künstlerisch“ zur Gestaltung bringen können und die Musikkulturen („bewusst im Plural“) mit ihrer universellen Vielfalt von Klangwelten soll Kinder und Jugendliche motivieren, möglichst viele Formen der kulturellen Teilhabe zu erleben, ohne die eigenen Vorlieben aufzugeben.

Mein Fazit: Wir haben sie noch nicht, die „Gemeinsame Schule“ als „Schule für alle“, die dann nur noch „Schule“ heißen muss. Aber diese „Musikdidaktik für die eine Schule“, die Irmgard Merkt hier vorlegt – vielleicht kann man sie als Bilanz ihres praktischen pädagogischen und akademischen Schaffens bezeichnen – ist ein ermutigender Meilenstein auf dem steinigen historischen Weg von der Hilfsschule über die Sonderschule zur Integration mit dem Zielzustand: Inklusion.
Rudi Krawitz