Prolegomena zur Pädagogik des gespaltenen Subjekts

Ein notwendiger RISS in der Sonderpädagogik

Langnickel, Robert (2021)

Die Beiträge der psychoanalytischen Pädagogik und der Psychoanalyse allgemein für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen sind zahlreich. Robert Langnickel ntwickelt in seiner Dissertationsveröffentlichung zur Pädagogik des gespaltenen Subjekts eine weitere Konzeption; aufbauend auf den bisher unzulänglich rezipierten Werken von Lacan, Dolto und Mannoni, die die bisherigen Referenzen erweitert. Dies gelingt insbesondere durch die Integration komplexer, unbewusster Macht-Ohnmacht-Dynamiken. Langnickel entwirft so einen neuen Baustein zum Verstehen von und zum professionellen Umgang mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten.


Aufbau und Inhalt

Zu Beginn führt Langnickel in Grundbegriffe und gut verständlich in die strukturale Psychoanalyse ein, in der die Überlegungen zu verorten sind. Mit der mentalisierungsbasierten Pädagogik wird zudem eine aktuelle, prominente Strömung berücksichtigt. Mittels eines methodischen Dreischritts (strukturale psychoanalytische Hermeneutik, Fallvignetten, Dispositivanalyse) werden Bezüge zur sonderpädagogischen Arbeit hergestellt. Exemplarisch und anschaulich werden anschließend anhand des Spiels Grundlagen der pädagogischen Förderung emotionaler und sozialer Entwicklung umfassend dargestellt. Insgesamt wird die Pädagogik des gespaltenen Subjekts also zur strukturalen Psychoanalyse und zur psychoanalytischen Pädagogik hin positioniert, ihre Inhalte und Formen in die Sonderpädagogik „übersetzt“ und insbesondere auf Potentiale der Prävention und Intervention von Verhaltensauffälligkeiten ausgeleuchtet (S. 43ff.), mit dem Ziel, „die bestehende Psychoanalytische Pädagogik um den Ansatz der strukturalen Psychoanalyse [zu] erweitern und als Referenzdisziplin für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen fruchtbar werden“ zu lassen (S. 20). Die Ergebnisse können jedoch auch auf die gesamte professionelle Sonderpädagogik übertragen werden, kurz gesagt auf alle pädagogischen Situationen, die eine besondere Reflexion der zugrundeliegenden, teils problematischen Machtstrukturen erfordern.
Die „Spaltung des Subjekts“ ist das zentrale Argument der Veröffentlichung. Diese Spaltung bezieht sich zum einen auf die Trennung innerhalb des Subjekts in Bewusstes und Unbewusstes (S.11ff.) und zum anderen auf die Trennung zwischen Umwelt und dem Subjekt selbst, aufgrund dessen sprachlicher (symbol-kommunikativer) Verfasstheit (S.14f.). Hierbei wird diese Spaltung nicht als etwas Pathologisches gedeutet wird, sondern als eine anthropologische Konstante und somit als eine grundlegend zu berücksichtigende Bedingung von Auffälligkeiten (S.16ff., 89). Mit dieser Perspektive weitet sich der Fokus auf diese Auffälligkeiten sowie die Symptomträger und es zeigt sich, dass Absicht der Pädagogik des gespaltenen Subjekts eben „nicht die Normierung von Kindern und Jugendlichen und ihre Anpassung an bestehende Verhältnisse“ (S.17), also „eine reine Symptombeseitigung und eine Zurichtung auf unhinterfragte soziale Verhältnisse“ (ebd.), ist. Mit der Berücksichtigung des Unbewussten wird auch eine Zielgruppe in den Fokus genommen, deren Bewusstsein eben nicht immer verständlich artikuliert werden kann. Der titelgebende RISS bezieht sich hauptsächlich auf eben diese Spaltung und deren Anerkennung. Für die pädagogische Arbeit bedeutet dies u.a. die Berücksichtigung der verborgenen Aspekte und der emotionalen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen – aber auch der Erwachsenen.

Diskussion

Im Laufe des Buchs werden wichtige Referenzpunkte zur (praktischen) Pädagogik bei Verhaltensstörungen deutlich: u.a. die Haltung des Nicht-Wissens (S.118), das Halten und Aushalten komplexer Situationen, die Notwendigkeit eines verstehenden Gegenübers und damit schlussendlich auch die Anerkennung von gewisser bleibender Distanz zum Kind oder Jugendlichen und teils situativer Hilflosigkeit. Ebenso zeigen sich die Parallelen zur Bedeutung der Erfahrungen von Macht-Ohnmacht-Situationen, in die pädagogisch Tätige gelangen und die sie auch selbst mit-verursachen können (S.169ff.), also solche Situationen, die selbst einen hohen Handlungsdruck ausüben und den Wunsch nach Kontrollierbarkeit laut werden lassen. Die Arbeit von Langnickel zeigt deutlich auf, warum es jedoch eben keine „herbeigewünschte pädagogische Werkzeugkasten“ (S.173) geben kann, denn die soziale Welt ist eben nicht vermessbar und klar vorhersehbar, sie bleibt eine Welt „eines grundlegenden Missverständnisses“ (S.30). Nach dieser Erkenntnis werden aufbauend Annäherungen über Erklärungsansätze angeboten und Orte in der
Sonderpädagogik skizziert, die diesen Ansprüchen genügen. Langnickel bezieht sich dabei auch anschaulich auf bereits existierende Institutionen in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Es gelingt in weiten Teilen ein erweitertes Verständnis über und Annäherungen an Kinder mit gravierenden Auffälligkeiten sowie auch ein professionalisiertes Selbst-Verständnis der beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen fundiert und nachvollziehbar zu vermitteln.

Fazit

Besonders lesenswert gestaltet sich hierfür Kapitel 3, das die vorherigen theoretischen Herleitungen in Situationen der Familie und der professionellen, sonderpädagogischen Institution verortet. Anwendungen finden diese wiederum in Kapitel 4, in dem mit dem Spiel ein für die Sonderpädagogik essenzieller Förderbereich herausgegriffen wird. Nach gut verständlichen Darstellungen zum freien und regelgebundenen Spiel sowie den Zusammenhängen von Spiel und Subjektwerdung, werden verschiedene Affekte wie Angst und Unsicherheit thematisiert. Die Pädagogik des gespalteten Subjekts zeigt sich für (solche) Praxis insofern fruchtbar, als dass sie mögliche Verstehensansätze und Lösungen für die komplexen Macht-Ohnmacht-Dynamiken anbietet und in zahlreichen Punkten zur kritischen Selbstreflexion anregt. Mit ihr findet sich eine Konzeption, die wichtige Aspekte des alltäglichen pädagogischen Umgangs in einen Zusammenhang bringt, zu erklären versucht und zugleich weitere Optionen eröffnet (z.B. An-Sprechen des Subjekts, Hören und Gehört werden, Gegenerfahrungen ermöglichen). Neben diesen Beiträgen zu einer fundierten Professionalisierung, lässt sich deutlich ein Mehrwert für die Disziplin beschreiben. Die Pädagogik des gespaltenen Subjekts bietet sich nach diesen Vorarbeiten und Grundlagen (Prolegomena) als Referenzdisziplin speziell für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen, mindestens als ein „Angebot der Professionalisierung“ (S.168) an und erweitert als ein Baustein die Einflüsse der älteren psychoanalytischen Pädagogik rund um Bettelheim, Aichhorn oder Redl.
Als große Stärke erweisen sich neue Zugangsweisen zu den Rollen von Macht und Ohnmacht in pädagogischen Beziehungen. Langnickel verortet seinen Ansatz kohärent, setzt diesen entsprechend in Beziehung, greift Kritik auf und entkräftet bzw. korrigiert diese nachvollziehbar. Implikationen für die Inklusion und deren komplexe Ansprüche an das (gespaltene) Subjekt werden leider nur angerissen und harren noch einer weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Abschließend ist diese Veröffentlichung ein lesenswertes Buch, das theoretisch fundiert und durch zahlreiche Praxisbeispiele neue Deutungsmuster anbietet und stets zur Selbstreflexion anregt.
Pascal Schreier