Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert?

Eine kritische Auseinandersetzung.

Kissling, Beat (2022)

Beat Kissling legt mit diesem 280 Seiten umfassenden Buch eine Positionsbestimmung zum Thema Inklusion für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen vor. Vor dem Hintergrund der im Jahr 2009 in Deutschland und 2014 in der Schweiz in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention zieht Kissling eine Art Zwischenbilanz, thematisiert den Widerstreit der gesellschaftlichen und schulpolitischen Modelle (Integration versus Inklusion) und hinterfragt durchaus kritisch bestehende Modelle mit dem Ziel, „die festgefahrene, polarisierte Debatte um Integration und Inklusion in der Schule neu aufzurollen und zu beleben“ (S.243f.). Dabei fokussiert Kissling unter der Prämisse, „allen Kindern mit ihren spezifischen Bedürfnissen möglichst optimale Lernbedingungen zu bieten“ (S.244), auf zwei aus seiner Sicht hierfür wesentliche Grundbedingungen: Die pädagogischen Fähigkeiten der Lehrkräfte und die Bedeutung der Klassengemeinschaft. Er führt diese Kerngedanken in einem weiten Bogen aus, der sowohl den historischen Bezugsrahmen des gemeinsamen Unterrichts als auch die anthropologischen Voraussetzungen sowie die integrative Praxis für die „Umsetzung einer humanen Bildung“ umfasst.
Aufbau und Inhalt Kissling gliedert sein Buch in insgesamt fünf Abschnitte und formuliert in seiner Einführung die Grundhaltung: „Wenn wir über Integration sprechen, geht es letztendlich um Fragen der Humanität“ (S.15). Grundlegend sei zu fragen, „wie es überhaupt möglich ist, zu einer konsensualen Perspektive und Lösung zu gelangen, die dem humanen Anspruch der Integration wirklich gerecht wird, sodass Anspruch und Realität nicht auseinanderklaffen“ (S.21).
Kissling wählt entsprechend in Kapitel 1 Integration – aus dem Leben gegriffen einen phänomenologischen Zugang zu seinem Thema. Der Autor beschreibt fünf individuelle, authentische Sichtweisen von Betroffenen als Beispiel für gelingende und misslingende Integration in ein schulisches Regelsystem mit dem Ziel, den Leserinnen und Lesern dabei zu „helfen, eine gewisse Sensibilität dafür zu entwickeln, wie facettenreich und nicht selten auch anspruchsvoll die Auseinandersetzung und Realisierung von Bemühungen mit Integration sind“ (S.29).
Im zweiten Kapitel Integration/Inklusion im Spiegel der Zeit widmet sich der Autor dem historischen Bezugsrahmen vom Aufbau eines spezialisierten Sonderschulwesens über die differenzierte inhaltliche Betrachtung der UN-Behindertenrechtskonvention bis hin zu damit verbundenen polemischen Diskussionen, für die Kissling sich mehr wissenschaftliche Sorgfalt und Toleranz wünscht. Er zeichnet ein mit wissenschaftlichen Methoden beschriebenes, differenziertes Bild sehr unterschiedlicher, einander zum Teil deutlich widersprechender Erfahrungen Betroffener, das die „Qualität der erlebten Beziehungen“ (S.92) als Merkmal des Kernkriteriums „Wohlbefinden in der Schule“ (S.92f.) in den Mittelpunkt rückt. Damit in engem Zusammenhang steht für Kissling eine starke Lehrperson (vgl. S.96), die auch im durchaus bestehenden Problemkontext Mobbing und Inklusion (Kap.2.12) ihrer besonderen Verantwortung gerecht wird. In Kapitel 3 Die anthropologischen Voraussetzungen des Lernens sammelt Kissling – ausgehend von Interviews mit seinen eigenen Schülerinnen und Schülern – „Bausteine einer pädagogischen Anthropologie“ zum Verständnis des menschlichen Lernens und beleuchtet diese hinsichtlich ihrer Relevanz für das schulische Lernen. Er verdeutlicht die Bedeutung des Klassenklimas, der Lehrpersönlichkeit und der Beziehungsqualität zwischen Lehrperson und Schülerin oder Schüler. Ausführlich referiert Kissling zur „Frage der sozialen Disposition des Menschen“ (S. 125) relevante Ergebnisse der Sozialwissenschaften, so auch den für die Sonderpädagogik so essenziellen Beitrag Vygotskys zur sozio-kulturellen Theorie der menschlichen Entwicklung (S.126f.), wie auch Tomasellos neueste Forschungen zur menschlichen Ontogenese („Ausdruck einer ‚hyperkooperativen Lebensform“ (S.130) und die Erkenntnisse der Bindungstheorie zur Erklärung kindlicher Bindungsqualität und Resilienz (S.151ff.).
In Kapitel 4 Integrative Praxis – die Umsetzung einer humanen Bildung fokussiert Kissling zwei aus seiner Sicht für die erfolgreiche Integration essenzielle Aspekte, die Bedeutung der Lehrpersönlichkeit für die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler sowie die Bedeutung der „Klasse als Lerngemeinschaft“ (S.165). Kissling zeichnet anhand zweier dokumentarischer Filmbespiele quasi die Konturen erfolgreichen Lehrerhandelns wie in einem praktischen „Anschauungsunterricht für Integration“ (S.191) nach und beschreibt „Verstehen und Helfen“ (ebd.) als Aufgaben der Schule, indem er die Bedeutung individualpsychologischer Zugangswege zu den Schülerinnen und Schülern hervorhebt.
Kissling resümiert in Kapitel 5 Schlussfolgerungen, Nachwort und Ausblick, mit diesem Buch sei „der Versuch unternommen worden, die festgefahrene, polarisierte Debatte um Integration und Inklusion in der Schule neu aufzurollen und zu beleben“ (S.243f.). Er stellt zwei „Grundbedingungen optimaler schulischer Lernbedingungen für Schüler“ heraus, und zwar einerseits die pädagogischen Fähigkeiten der sie unterrichtenden Lehrkräfte als feinfühlige, Klarheit und Sicherheit vermittelnde „kulturelle Mentoren“ (S.247) sowie die Bedeutung der Klassengemeinschaft für das Wohlbefinden und kollektive Lernprozesse in wohlverstandener Abgrenzung zu einem stark individualisierten und eher vereinzelnden Unterricht. Kissling beurteilt abschließend die Konstrukte Integration und Inklusion: „Integration ist grundsätzlich dann sinnvoll und sollte realisiert werden, wenn dies für das einzelne Kind, die Klasse und den Lehrer keine übermäßige Belastung, sondern vielmehr einen wirklichen Gewinn bedeutet und echte Chancen eröffnet“ (S.257). Am Konzept der Inklusion kritisiert Kissling das kategorische „Prinzip von ‚alles oder nichts‘“ (S.258) und die „extreme Heterogenität der Schüler“ (ebd.). Kissling wendet sich explizit gegen ein vereinfachendes Verständnis von „Vielfalt als Bereicherung“, das Inklusion zu einem „mysteriös funktionierenden Konzept“ verkläre (S. 260) und „für die betreffenden, wirklich behinderten Menschen […] eine Verleugnung der Realität sei, die dem Schutz der Würde der Betroffenen in keiner Weise gerecht werde, geschweige denn ihm helfen würde“ (S.260).
In seinem Nachwort und Ausblick (Kap.5.2) spricht Kissling sich für eine realistische Sichtweise auf die „geschilderte Ambivalenz und Komplexität der Sonderschulproblematik“ aus. Ihm geht es um ein Ausloten der Möglichkeiten, „ohne die bestehenden Schulstrukturen vollkommen revolutionieren zu müssen“ (S.263), z.B. durch Teil-Integration und kooperative Beschulungsformen als „echter Beitrag zu einer Entwicklung, die der ursprünglich schönen und wertvollen Inklusionsidee entspricht“ (S. 264).