Umgang mit sozialen Ungleichheitslagen in Schulentwicklungsprozessen

Eine qualitative Prozessanalyse zweier Inklusiver Schulen der Sekundarstufe

Tan, Astrid Edith (2021)

Die Dissertation von Astrid Edith Tan stellt einen lesenswerten Beitrag zur Schulentwicklungsforschung hinsichtlich des Umgangs mit sozialen Ungleichheitslagen dar. Den Kern der Arbeit bildet ihre empirische Studie, die darauf zielt, „mittels einer Prozessanalyse inklusive Schulentwicklungsprozesse in der Sekundarstufe des Bildungswesens zu erfassen und hinsichtlich des Umgangs mit sozialen Ungleichheitslagen zu analysieren“ (S. 333, Herv. i. O.). Die Studie verfolgt den Anspruch, dadurch Erkenntnisse zu Rahmenfaktoren für inklusive Weiterentwicklungsprozesse von Schule abzuleiten. Eingebettet in den Diskurs über Inklusion und die diskriminierungsfreie Partizipation aller Schülerinnen und Schüler am Bildungssystem baut das Werk auf der Tatsache auf, dass der schulische Erfolg nach wie vor in engem Zusammenhang mit der sozialen Herkunft steht. Die Autorin betrachtet diese soziale Ungleichheit unter einer „intersektionalen Perspektive“ (S. 42) und erachtet dabei aufgrund ihrer Relevanz für die Wahrnehmung des Rechts auf Bildung v.a. vier soziale Ungleichheitskategorien als bedeutsam für den schulischen Kontext: soziale Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Leistungsfähigkeit/Behinderung. Beispielhaft ist hier an Heranwachsende zu denken, die sehr häufig in einer sozial benachteiligenden Lebenslage aufwachsen. Sie sind einem erhöhten Exklusionsrisiko und Bildungsbenachteiligungen ausgesetzt; dazu gehören bspw. Zuschreibungen eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Bereich Lernen. Unter dieser Personengruppe befinden sich oftmals männliche Lernende mit Armuts- und Migrationserfahrungen (vgl. zsfd. Serke 2019). Die benannten vier Ungleichheitskategorien sind für die gesamte Arbeit maßgeblich leitend und fokussetzend.
Die Autorin versteht inklusive Schulentwicklung als einen stetigen Prozess (S.134). Aus diesem Grund beleuchtet sie insbesondere die Prozesse, die Einzelschulen in ihrer Entwicklung hin zu einer inklusiven Schule durchlaufen. Dies wird erreicht durch eine retrospektive Blickweise, die rückblickend die Entwicklung zweier Einzelschulen über einen Zeitraum von 20 Jahren rekonstruiert. Am Beispiel der integrierten Gesamtschule Erich Kästner-Schule in Bochum sowie dem Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lüdenscheid werden entsprechende Entwicklungsprozesse nachgezeichnet. Diese zwei Schulen wurden aufgrund ihrer gelungenen inklusiven Entwicklungen als Fälle ausgewählt (S.143ff.). Im Fokus des Forschungsinteresses stehen einerseits die Impulse bzw. Faktoren, die Schulentwicklungsprozesse ausgelöst haben, aber auch die Gelingensbedingungen ihrer weiteren Entwicklung (S.21; 333).
Die vorliegende Studie bedient sich der Methodik der qualitativen Prozessanalyse (S.137), die u.E. auch mit Blick auf zukünftige Forschungsarbeiten im Kontext der (rekonstruktiven) Inklusionsforschung ein hohes Potenzial aufweist. Die herangezogene Prozessanalyse umfasst neben einer umfangreichen
Dokumentenanalyse die Durchführung und Auswertung von qualitativen Expertinneninterviews mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren der beforschten Schulen auf Basis eines Gesprächsleitfadens. Im Rahmen der kriteriengeleiteten Dokumentenanalyse wurden u.a. Schulzeitungen, Elternbriefe, Schulprogramme, Statistiken und Protokolle von Steuergruppen der beiden Einzelschulen gesichtet und qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet (S.154ff.). Mittels der Dokumentenanalyse werden die einzelnen Stationen der Entwicklung beider Schulen erfasst. Die darauf aufbauenden Expertinneninterviews dienen der inhaltlichen Ergänzung und Anreicherung (S. 21). Als Expertinnen und Experten wurden insgesamt 17 Personen interviewt, darunter Schulleitungen, Lehrerkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern, die an den entsprechenden Schulen in Schulentwicklungsprozesse involviert waren (S.162). Das vorab erarbeitete bzw. deduktiv gewonnene Kategoriensystem wurde im Rahmen der Analyse durch eine induktive Kategorienkonstruktion angereichert (S.165). Der gewählte qualitative Zugang ermöglicht ein tiefgreifendes Verstehen und Analysieren der beiden ausgewählten Einzelschulen. Dadurch erhalten die Leserinnen und Leser anschauliche Einblicke in die Entwicklungsprozesse der Schulen. Die auslösenden Faktoren und Gelingensfaktoren von Schulentwicklungsprozessen werden in der Ergebnisdarstellung in strukturierter Weise jeweils auf die vier ausgewählten sozialen Ungleichheitskategorien (soziale Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Leistungsfähigkeit/Behinderung) angewandt. Die Analyse erfolgt kontinuierlich auf gelungene Weise durch einen Rückbezug auf die zuvor dargelegten Theorien, wie bspw. dem Schulentwicklungsmodell von Rolff oder dem Forschungsansatz Educational Governance (Altrichter et al.). Die komplexe Ergebnisdarstellung in Bezug auf beide Einzelschulen wird abgerundet durch eine Fallkontrastierung beider Schulen hinsichtlich ihrer Entwicklungsprozesse im Umgang mit sozialen Ungleichheitslagen. Es wird in der Dissertation deutlich, welche schulintern vorangetriebenen Gestaltungsmöglichkeiten Schulen bei der Reduktion von Bildungsungleichheit und der Realisation inklusiver Pädagogik haben. Konkrete schulbezogene Problemorientierungen, welche die Wahrnehmung der Bedürfnisse und Problemlagen der Schülerinnen und Schüler durch das Lehrerkollegium voraussetzten, treten dabei maßgeblich als auslösende Faktoren für die Weiterentwicklung der untersuchten Schulen in den Fokus. Die Autorin akzentuiert als Gelingensfaktoren inklusiver Schulentwicklungsprozesse v.a. die besondere Relevanz von Schulleitung sowie Kooperation verschiedener Akteursgruppen (S.333ff.), die auch in der aktuellen Inklusionsforschung herausgestellt werden (Serke & Streese, i.V.). Hervorgehoben wird des Weiteren die Bedeutung der Partizipation von Schülerinnen und Schülern als „(mit-)gestaltende Kräfte“ (S. 340) inklusiver Schulentwicklungsprozesse. Astrid Edith Tan bietet durch ihre Veröffentlichung allen an Schulentwicklungsprozessen beteiligten Akteurinnen und Akteuren Inspirationen und Handlungsimpulse und bestärkt in der Tatsache, dass inklusive Entwicklungen an Schulen intern möglich sind, auch wenn bildungspolitische Umstände bislang noch keine optimalen Rahmenbedingungen dafür bieten.

Björn Serke und Lisa-Marie Berning

Buchbesprechungen
Michael Schoo und Christopher Mihajlovic veröffentlichen mit „Sport, Spiel und Bewegung – für
Menschen mit mehrfachen Behinderungen“ im Verlag selbstbestimmtes leben eine theorie fundierte
und gleichzeitig praxisnahe Darstellung für Sportunterricht in Schulen und nachschulische Sportund Bewegungsangebote für Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Sorgfältig bearbeiten die
beiden Autoren im ersten Abschnitt eine genaue Begriffsklärung des angesprochenen Personenkreises. Da der Begriff „Mehrfachbehinderung“ in der Literatur unterschiedlich defi niert wird,
sind die beispielhaft aufgeführten sechs Schüler-Beschreibungen sehr hilfreich. Die Praktiker vor
Ort im Schulsport, in Vereinen und Sportorganisationen werden hier gute Bezüge zu ihrer Klientel
aus den sonderpädagogischen Schwerpunkten Körperliche und motorische Entwicklung, Geistige
Entwicklung und Sehen herstellen können.
Die Bedeutung der Bewegungsförderung für Menschen mit Körper- und Sehbehinderung wird
umfassend dargestellt. Großer Wert wird auf die gute Vorbereitung des Übergangs aus der Schule
in nachschulische Möglichkeiten der Sport- und Bewegungsförderung gelegt. Dies ist ein oft unterschätztes Problem: Die meist gute Förderung in der Schule endet oft abrupt mit der Schulentlassung. Dies kann verhindert werden, wenn schon vor Ende der Schulzeit über Kooperationen mit
Sportvereinen eine Basis für eine weitere gelingende Teilhabe im Bereich Bewegung und Sport
für Menschen mit mehrfacher Behinderung gelegt wurde. Sehr hilfreich sind die fachspezifi schen
Anmerkungen von Mihajlovic zu geeigneten Sportarten für Menschen mit Sehbehinderung und
die Hinweise zur oft nicht ausreichenden Diagnostik im Bereich Sehen bei vielen Menschen mit
mehrfacher Behinderung, insbesondere im Bereich cerebral bedingter Sehstörungen („cerebral
visual impairment“). Interessant ist die Darstellung der wenigen Studien zum Selbsterleben von
Menschen mit mehrfachen Behinderungen im inklusiven Schul- und Vereinssport, in denen diese
besonders die mangelnde sonderpädagogische Expertise von Lehrkräften an Allgemeinen Schulen
und Übungsleitern in Sportgruppen als Belastungsfaktor nennen.
Sehr praxisnah beschreiben beide Autoren in der Folge wichtige Voraussetzungen für eine gelingende Organisation von Bewegungs- und Sporteinheiten und stellen Bezüge zu bestehenden methodisch-didaktischen Ansätzen zur Bewegungsförderung für mehrfachbehinderte Menschen her.
In einem Exkurs werden ausgewählte Modelle für einen inklusiven Sportunterricht dargestellt.
Bestehende Angebote des bvkm, der special olympics und des deutschen Rollstuhlsportverbands
werden mit ausführlichen Internetverweisen auf weiterführende Literatur beschrieben.
Der umfangreiche, gut bebilderte Praxisteil gibt in den fünf Unterkapiteln Grundbewegungsarten,
Spielformen, Angebote aus der Leichtathletik, Bewegen und Spielen im Wasser und Kämpfen und
Kräfte messen einen breiten Überblick lang bewährter und neu entstandener Übungs- und Spielformen, die sowohl den Bereich der basalen Bewegungsförderung, als auch die Umsetzung relativ
komplexer Sportspiele umfasst. Neuere Sportspiele wie „Wheel-soccer“, „Polybat“ oder „SNAGGolf“ werden mit Regelwerk und guter Bebilderung dargestellt. Sprengt das jeweilige Regelwerk
den Rahmen der Veröffentlichung, werden weiterführende Literaturhinweise und Hinweise auf
entsprechende Internetquellen zur Verfügung gestellt.
Im letzten Kapitel wird noch einmal der Anspruch der Autoren auf das lebenslange Teilhaberecht
von Menschen mit mehrfacher Behinderung am Bereich Bewegungsförderung und Sport deutlich.
Neben zwei Schulen wird das Bewegungsförderungsangebot einer WfbM, eines inklusiven SportMihajlovic, Christopher &
Schoo, Michael (2021).
Sport, Spiel und
Bewegung für Menschen
mit mehrfachen
Behinderungen
Düsseldorf: Verlag
selbstbestimmtes leben
ISBN 978-3-945771-25-9
224 Seiten
17,40 Euro
Konkrete schulbezogene Problemorientierungen, welche die Wahrnehmung der Bedürfnisse und Problemlagen der Schülerinnen und Schüler durch das Lehrerkollegium voraussetzten, treten dabei maßgeblich als auslösende Faktoren für die Weiterentwicklung der untersuchten Schulen in den Fokus. Die
Autorin akzentuiert als Gelingensfaktoren inklusiver Schulentwicklungsprozesse v.a. die besondere
Relevanz von Schulleitung sowie Kooperation verschiedener Akteursgruppen (S.333ff.), die auch in
der aktuellen Inklusionsforschung herausgestellt werden (Serke & Streese, i.V.). Hervorgehoben wird
des Weiteren die Bedeutung der Partizipation von Schülerinnen und Schülern als „(mit-)gestaltende
Kräfte“ (S. 340) inklusiver Schulentwicklungsprozesse.
Astrid Edith Tan bietet durch ihre Veröffentlichung allen an Schulentwicklungsprozessen beteiligten
Akteurinnen und Akteuren Inspirationen und Handlungsimpulse und bestärkt in der Tatsache, dass
inklu sive Entwicklungen an Schulen intern möglich sind, auch wenn bildungspolitische Umstände bislang noch keine optimalen Rahmenbedingungen dafür bieten. Björn Serke und Lisa-Marie Berning